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  • Kerstin

15. Mai 2020: Kulturgeschockt

Man sollte meinen, dass nach ziemlich genau einem Jahr im fremden Land eben jenes gar nicht mehr fremd ist, sondern mehr und mehr zur Heimat wird. In vieler Hinsicht ist das auch so. Die permanente Positivität der Amerikaner im täglichen Umgang miteinander (nicht in der täglichen Politik – der bekloppte orangenhäutige Präsident ist in dieser Hinsicht ja nicht nur bekloppt und kindisch, sondern auch völlig unamerikanisch mit seinen Schimpftiraden) empfinde ich inzwischen gar nicht mehr als aufgesetzt, sondern als wohltuend. Ich wundere mich nicht mehr, dass man in kaum einem Supermarkt Alkohol kaufen kann und lache innerlich, wenn ich Milchpackungen im deutschen Normalformat sehe. Die 3,89 Liter-Behälter sind eben zur Normalgröße geworden. Ich habe mich sogar daran gewöhnt, dass die Meetings bei der Arbeit 4-6 Minuten zu spät beginnen. Und wenn mich DAS nicht mehr aufregt, dann habe ich mich ganz sicher amerikanisiert. Vielleicht halte ich irgendwann sogar Südamerika aus, was das Zeitmanagement betrifft.

Aber manchmal, manchmal gibt es dann doch so Situationen, da fühle ich mich nach wie vor völlig fremd. Diese Woche war so eine echte Kulturschock-Woche für mich. Los gings am Montag, als ich ein wichtiges Projekt von meinen Vorgesetzten übertragen bekommen habe. Was tut man als gute deutsche Mitarbeiterin dann? Richtig – alle Informationen zusammentragen, einen gut durchdachten Plan erstellen, Meilensteine festlegen, Team zusammensuchen und los.

Und dann kamen die Amis. In Person(en) von sechs VPs („Vice Presidents“, also ungefähr 4 Gehaltsstufen über mir), die mir zwar offiziell die „Projektleitung“ übertragen haben, aber dennoch alles unter sich besprechen, mir dann jeden Abend gefühlt 25 Emails mit täglich anderen Inhalten schicken und das „Projekt“ praktisch immer wieder neu definieren. Inzwischen habe ich die fünfte Version einer - natürlich – Power Point Präsentation erstellt, die sich wahrscheinlich nie jemand anschauen wird. Aber wir haben mal was produziert, wenn auch nichts substanzielles.

Liebe Amis. Ich verstehe ja, dass wir Deutschen viel zu viel und vor allem viel zu lange planen, ständig meckern und völlig unflexibel gegenüber neuen Erkenntnissen sind. Deshalb haben wir ja immer noch nicht überall Internet im Land. Aber so ein ganz klitzekleines bisschen Struktur würde vielleicht doch zielführend sein…?!

Wie dem auch sei. Ich habe in dieser Woche für mich wirklich wichtige Erkenntnisse über die amerikanische Arbeitskultur gewonnen. Mein Fazit: Bloß nicht zu viel Energie in den ersten Entwurf stecken, immer schön gelassen bleiben und dabei trotzdem zeigen, dass man wahnsinnig beschäftigt ist. Denn busy wird schnell und gerne gleichgestellt mit gut.

Und bis nächstes Jahr habe ich das bestimmt verinnerlicht. Und sehne mich nicht mehr nach deutschem Arbeitsleben, Steuersystem und Beamtentum zurück, wo alles noch seine seit Jahren angestammte Ordnung hat – siehe Anhang.

Sonnige Grüße ins Wochenende!



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